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Predigt Bischofs Bonnemains zur Jahrzeit von Luigi Giussani

«Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.»
Liebe Mitbrüder
Liebe Schwestern und Brüder
Liebe Freunde von Communione e Liberazione
Das ganze heutige Evangelium ist eine Ausfaltung dieser Aussage des Herrn: «Seid barmherzig, wie auch euer himmlischer Vater barmherzig ist.» Gott ist nicht nur barmherzig, er ist die Barmherzigkeit und die Barmherzigkeit ist Gott. Darf ich sagen – um es verständlich zu machen – dass die Barmherzigkeit das Göttlichste in Gott ist? Seine Liebe kennt keine Grenzen, sei es zeitlich oder räumlich oder existentiell. Diese grenzenlose göttliche Barmherzigkeit ist in Christus Mensch geworden. Jesus ist die menschgewordene Barmherzigkeit. Seine Art, sich "durchzusetzen", seine "Herrschaft" ist Barmherzigkeit. Alles, was er uns im heutigen Evangelium nahelegt, hat er gelebt und uns vorgelebt.
Jesus ist am Kreuz liebend gestorben. Er hätte sich wehren können, aber hat es nicht getan. Gegenüber all dem, was auf Erden Hass, Krieg, Kampf, Gewalt, Rivalität, Ungeduld, Verurteilung, Rache und Konfrontation ist, hat er mit seiner absoluten Liebesbereitschaft: «Es ist vollbracht», mit seiner unbedingten Vergebungsbereitschaft: «Vater, vergib ihnen» reagiert. So ist Christus die hörbare Stimme der göttlichen Barmherzigkeit auf Erden. Sein vergebender Blick vom Kreuz aus ist sichtbarer Ausdruck der göttlichen Barmherzigkeit. Seine offenen und umarmenden Arme am Kreuz – so wie die Umarmung des barmherzigen Vaters gegenüber seinem verlorenen Sohn – sind die berührbare Barmherzigkeit des Himmels.
Liebe Schwestern und Brüder, das Kreuz ist die einzige Antwort Gottes auf Krieg, Hass und Gewalt zu reagieren. Nur so wird der Teufelskreis, die Spirale der Gewalt, das Talionsgesetz der Vergeltung durchbrochen und aufgehoben. In unserer Welt müssen wir leider eine ganze Reihe von Kriegen, Aggressionen, Gewalt, Abgründe des Hasses, imperialistische Arroganz, verschlossenen Nationalismus, ideologischen Populismus und verkappten Rassismus feststellen. Der heilige Vater spricht manchmal von einem "Dritten Weltkrieg in Portionen". Er wird nicht müde, zu erklären, dass der Krieg immer eine Niederlage für alle ist, dass es im Krieg nur Verlierer gibt. Der Krieg verletzt immer die unantastbare Würde eines jeden Menschen. Dem gegenüber ist die Barmherzigkeit die einzige "Waffe" Gottes.
Als der Irak-Krieg ausbrach, ist am 8. April 2003 im Corriere della Sera ein Brief von Don Giussani erschienen, der eine grosse Resonanz erfuhr. Die jetzige Lage in der Welt ist nicht viel anders als die Damalige. Am liebsten würde ich hier den ganzen Brief vorlesen, ich beschränke mich aber auf einige Sätze. Der Gründer von "Communione e Liberazione" schrieb in diesem Brief: «In den Bombeneinschlägen und den brennenden Städten ist es der Gedanke an den Tod Jesu, der den Dingen in meinen Augen Wahrheit verleiht. Ich kann mir keine andere Erklärung geben als diese: Christus nachzufolgen, der ans Kreuz geht, um ihm gleich zu werden, das ist alles.
Deshalb haben wir uns mit Schlichtheit an die Worte des Papstes über die Liebe und den Frieden gehalten, weil wir mit ihm erkannt haben, dass sie nicht aus der Verurteilung derjenigen kommen, die den Krieg wollen, sondern daraus, dass wir all unsere Energie darauf verwenden, eine Erziehung zu reaktivieren, die uns dazu erzieht, eine Ungerechtigkeit zu erkennen, die am Ursprung aller menschlichen Entscheidungen liegt – das, was man im Namen Christi Erbsünde nennt.» Und weiter steht im Brief: «Die Ursünde und damit die Möglichkeit des Despotismus ist ein Gift, das in einem Geheimnis beheimatet ist und dort seinen Ursprung hat. Und auf dieser für uns unergründlichen Ebene bringt einzig die Barmherzigkeit Gottes das Heil.» (…) «Was für ein grosses Geheimnis! In der Barmherzigkeit verwirklicht sich der Vorteil der Liebe, die bis zur Vergebung reicht. Wenn dies nicht erreicht wird, ist alles eine Lüge, und die Vernunft verstrickt sich in einen Widerspruch: Man beschuldigt entweder den anderen oder sich selbst, was in purer Verzweiflung endet.
Das Heil kommt aus der Nachfolge Christi, aus der Einfühlung in sein Gefühl für den Menschen und aus der Anrufung der Gnade, dass der Mensch mit seiner Freiheit das tut, was Christus mit der Seinen tat: die Übergabe der eigenen sterblichen Schwäche in die Hände der Barmherzigkeit des Vaters, das heisst des Geheimnisses des Seins.»
Wir werden zum Frieden nur beitragen können durch die Wege, welche den Frieden fördern: universale Geschwisterlichkeit, Dialog, Austausch, Verhandlungen, Kommunikation, Pflege von Beziehungen jenseits der Grenzen von Kultur, Nation, Sprache, Hautfarbe, Parteilichkeit und Religion.
Nun die Frage: Wie können wir das im Alltag verwirklichen? Dort, wo im Kleinen die Barmherzigkeit zum Zuge kommen sollte, bei den kleinen Lieblosigkeiten in der Familie, bei Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz, bei Spannungen in der Nachbarschaft, bei der Benachteiligung von Ausländern, bei Missverständnissen mit den Lehrern der eigenen Kinder, bei Rivalitäten im Sportclub oder auf dem Sportplatz, beim Erleiden von unbegründeter Kritik, bei negativen Meldungen über die Kirche. Die Frage ist: Wie reagieren wir darauf? Reagieren wir wie Jesus? Machen wir seine Barmherzigkeit sichtbar?
Als Mater misericordiae rufen wir Maria an. Sie hat in ihrem Schoss die Barmherzigkeit Gottes getragen und für die Welt geboren. Sie ist die Pietà – mit dem Preis der Barmherzigkeit, mit dem gekreuzigten Sohn auf ihrem Schoss. Sie hat von ihrem göttlichen Sohn gelernt, Barmherzigkeit für die Menschen zu sein. Sie hat sich die Vergebung ihres Sohnes zu eigen gemacht. Niemals hat sie einen Menschen verurteilt und niemals wird sie einen verurteilen. Sie tritt für uns als Advocata misericordiae ein, als barmherzige Anwältin der Barmherzigkeit. Flehen wir sie für die ganze Menschheit um Barmherzigkeit an, versuchen wir, sie nachzuahmen und seien wir barmherzig. Amen
Pfarrei Liebfrauen, Zürich, 23. Februar 2025
Joseph Maria Bonnemain
Bischof von Chur
