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Bistum Chur

Predigt von Bischof Joseph Maria in der Heiligen Nacht

Liebe Mitbrüder
Liebe Schwestern und Brüder

In der Mitte der heutigen Feier, in der Mitte dieser Heiligen Nacht ist das neugeborene Jesuskind. In der Erzählung über diese Geburt, die wir gerade wieder einmal mehr gehört haben, haben die Windeln, mit denen das göttliche Kind gewickelt und die Krippe, in die es gelegt wurde, eine prominente Stelle: «Maria wickelte ihn – den Sohn – in Windeln und legte ihn in eine Krippe». Diese wurde zum Zeichen für die Hirten, wo sie das Neugeborene finden konnten: «Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt».

Diese Zeichen der Windel und der Krippe waren nicht nur Zeichen für die Hirten, sondern bleiben für immer ein Zeichen für die Welt, ein Zeichen für uns Menschen, ein Zeichen für uns alle – hier und jetzt.

Ich glaube, es ist für uns nicht schwierig, uns vorzustellen, welche Gedanken, Gefühle, welches Empfinden Maria und Josef unter den prekären Umständen im Stall von Betlehem hatten. Ihnen wurde ein Kind geschenkt, wie auch der Prophet Jesaja sagt: «Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt». Es wurde ihnen das Kind geschenkt, das das Licht der Welt, das Licht für das ganze Universum war und ist: «Das Volk, das in der Finsternis ging, sah ein helles Licht; über denen, die im Land des Todesschattens wohnten, strahlte ein Licht auf». Und was konnten Josef und Maria ihm – dem Kind – geben? Das spärliche Licht und die wenige Wärme eines kleinen Feuers im Stall, den bescheidenen Schutz der Windeln – materiell nicht viel mehr. Es musste ihnen weh tun, sie schmerzen, so wenig diesem Kind bieten, schenken zu können. Ich bin überzeugt: sie empfanden einen grossen Unterschied, eine grosse Unverhältnismässigkeit zwischen dem, was sie bekamen, ihnen geschenkt wurde und dem, was sie dem Jesuskind geben, schenken konnten.

Liebe Schwestern und Brüder, haben Josef und Maria sich mit diesem Gefühl abgefunden? Ich glaube, dass wir alle sicher sind, dass das nicht der Fall war. Sie schenkten Jesus alles, was sie konnten, alles, was sie hatten, nein, alles, was sie waren: ihre Gegenwart, ihre ganze Existenz, ihren restlosen Einsatz für das Kind. Sie haben dem Neugeborenen ihre Begrenztheit zur Verfügung gestellt, aber restlos, ihre ganze Existenz, das ganze Herz.

Die Windel und die Krippe bleiben ein Zeichen für uns und für die Welt. Nicht die äusseren Umstände, sondern die Haltung des Herzens, die Liebe, mit der wir Gott und den Menschen begegnen, sind einzig und alleine ausschlaggebend.

Maria und Josef hielten dort, im Stall, mit unermesslicher Liebe Wache beim Kind. Sie waren da für ihr Kind. Wie ist unsere Haltung heute, in dieser Heiligen Nacht? Gott ist uns geboren. Das Gotteskind wird uns geschenkt, das Licht der Welt. Was schenken wir ihm? Schenken wir ihm etwas? Dekorationen? Christbäume? Weihnachtslieder? Einen Gottesdienst? Was bietet die Welt heute dem Kind? Licht oder die Dunkelheit verschiedener Kriegsregionen? Wärme oder die Kälte der Waffen? Ist es nicht so, dass Jesus vor allem unsere Bereitschaft, unsere Verbundenheit, unser Dasein für ihn erwartet, unser Engagement? Und für ihn dazu sein, engagiert für ihn zu sein, bedeutet nichts anders, als sich für Frieden, Geschwisterlichkeit, für Eintracht, für die Armen und Leidenden einzusetzen. Es ist wirklich die beste Nacht, um ihm zu sagen: da bin ich, mit mir kannst du rechnen. Ich möchte wie Maria und Josef ein Geschenk für dich sein; auf mich kannst du zählen. Ich bin bereit, mit dir an einer besseren Welt mitzubauen.

Das grösste Geschenk ist die Verbundenheit in den Anliegen, das Eins-Werden der Herzen. Kann ich vielleicht eine kleine Geschichte von einem unbekannten Autor erzählen:

Auf einer abgelegenen Südseeinsel lauschte ein Schüler aufmerksam der Weihnachtserzählung der Lehrerin, die erklärte: „Die Geschenke an Weihnachten sollen uns an die Liebe Gottes erinnern, der seinen Sohn zu uns auf die Erde gesandt hat, um uns zu erlösen, denn der Gottessohn ist das grösste Geschenk für die ganze Menschheit. Aber mit den Geschenken zeigen die Menschen sich auch untereinander, dass sie sich lieben und in Frieden miteinander leben wollen.“

Am Tage vor Weihnachten schenkte der Junge seiner Lehrerin eine Muschel von einmaliger Schönheit. Nie zuvor hatte sie etwas Schöneres gesehen, das vom Meer angespült worden war.

„Wo hast du denn diese wunderschöne und kostbare Muschel gefunden?“, fragte sie ihren Schüler.

Der Junge erklärte, dass es nur eine einzige Stelle auf der anderen Seite der Insel gäbe, an der man gelegentlich eine solche Muschel finden könne. Etwa 20 Kilometer entfernt sei eine kleine, versteckte Bucht, dort würden manchmal Muscheln dieser Art angespült.

„Sie ist einfach zauberhaft“, sagte die Lehrerin. „Ich werde sie mein Leben lang aufbewahren und dich daher nie vergessen. Aber du sollst nicht so weit laufen, nur um mir ein Geschenk zu machen.“

Mit leuchtenden Augen sagte der Junge: „Der lange Weg ist ein Teil des Geschenkes.“

Das grösste Geschenk Gottes ist der unendliche Weg, den er unternommen hat, um für uns Mensch zu werden, bis zum Äussersten, bis in die Windeln und in die Krippe. Welche Strecke unternehmen wir unsererseits? Wenn wir ihn lieben, werden wir unter einander Distanzen abschaffen, Gleichgültigkeit beseitigen, dafür einander Herzenswärme, Nähe, Verständnis, Interesse, Verbundenheit, Zeit und Aufmerksamkeit schenken. So wird Weihnachten wirklich. Amen

 

Bischof Joseph Maria Bonnemain
Kathedrale Chur, 24. Dezember 2023