Liebe Domherren, liebe Mitbrüder
Liebe Schwestern und Brüder, liebe Christgläubige
Der Aussätzige erwartete, dass das geschieht, was das Wollen und Können des Herrn zustande bringen kann. Jesus aber handelt nicht von seinem Wollen und Können geleitet, getrieben, sondern getragen und angespornt von seinem Mitleid. Ein Mitleid, das sozusagen bis zur Berührung des Aussätzigen herabsteigt. Gott ist Barmherzigkeit. Vor dem Kranken, der auf die Knie fällt, fällt Gott sozusagen auch auf die Knie.
Ich kenne einen Priester, der Papst Johannes Paul II. sehr oft bei seinen Eskapaden, Ski zu fahren, in die Abruzzen begleitete. Der Papst stand sehr früh auf und verbrachte zwei Stunden in Meditation, bevor er die Eucharistie feierte. Dieser Priester überwand sich, stand ebenfalls sehr früh auf, um den Papst zu begleiten. Allmählich fühlte er sich überfordert. Eines guten Tages, als beide im Garten des Hauses spazierten, sagte er dem Papst: Heiliger Vater, ich bete auch, aber sagen Sie mir bitte: «Was machen Sie zwei Stunden vor dem Tabernakel?» Johannes Paul II. erklärte ihm: «Mauro, wenn ich nicht viele anbetende Stunden vor dem Allerheiligsten verbracht hätte, hätte ich nicht gelernt, vor jedem Menschen niederzuknien».
Diese Begebenheit kam mir in den Sinn, als ich die Christmette-Predigt des Papstes las. Papst Franziskus sagte fast am Ende seiner Homilie: «Gott lasse uns eine anbetende, arme und geschwisterliche Kirche sein. Das ist das Wesentliche».
Eine anbetende Kirche
Wenn wir von Anbetung hören, könnten wir denken, dass es darum geht, Gott klar den Vorrang zu geben, im Sinne einer theozentrischen Kirche, in der zuerst und als Wichtigstes der Kult und die Liturgie, die Riten und der Lobgesang, die Hymnen und die Gregorianik, der Weihrauch und die Rubriken sind – in der die Ehre Gottes an erster Stelle sein muss. Aber eine wirklich anbetende Kirche ist eine Kirche, welche mit Christus vor jedem Menschen und zwar von den Schwächsten und Armseligsten, vor den Abgefallensten niederkniet. Gott will keine Ehre erhalten von Menschen, die nicht wie er, die Würde und die Ehre des Menschen anstreben. «Die Lade Gottes des Herrn der Heere» zu hüten, ihre Gegenwart unter uns anzubeten, ist erst wirklich wirksam, wenn wir zugleich im Einklang mit der diakonischen Leidenschaft des Herrn handeln und die Werke der Barmherzigkeit vollziehen.
Es ist mir ein grosses Anliegen dies heute bei der Einsetzung der neuen Kapitulare zu betrachten. Manchmal in den letzten Jahren haben einzelne Domherren anlässlich des Generalkapitels die Frage gestellt: Was ist die Aufgabe des Domkapitels? Gemäss unseren Statuten sind die Domherren an erster Stelle für die Liturgie und den Kult in der Kathedrale zuständig. Die sorgfältige Pflege der Liturgie in der Kathedrale sollte tatsächlich ein Ansporn und Beispiel für die ganze Diözese sein. Dank dieser Gottesanbetung sollten die Kanoniker zugleich gerade jene im Bistum sein, welche eine diakonische Dynamik, eine diakonische Verwandlung des ganzen Bistums vorantreiben. Darf ich diesen Wunsch äussern? Unser Domkapitel wird unersetzlich und wirksam sein, wenn jeder Domherr, dort wo er ist und wirkt, ein Ansporn, ja Sauerteig, Initiator und Motivator eines 100% diakonischen Denkens und Handelns wird. Die Definition eines Domherrn von Chur sollte lauten: Er ist ein Diakonie-Revolutionär.
Eine arme Kirche
Das Domkapitel verfügt über ein beträchtliches Vermögen. Ich bin den residierenden Kapitularen – angefangen beim Domdekan – sehr dankbar, dass sie mit grossem Verantwortungssinn die finanziellen Belange des Kapitels wahrnehmen und die materielle Grundlage des Kapitels langfristig sichern. Es ist einzig gerecht und richtig, dass nur Ausgaben getätigt werden, welche im Einklang mit den statutarischen Zwecken des Kapitels stehen. Da der Kult und die Liturgie – die Anbetung und die Ehre Gottes – Hauptziele des Domkapitels sind, sollte es möglich sein – im Sinne von dem, was ich vorher dargelegt habe – dass unser Kapitel vermehrt und grossherzig diakonische Projekte im Bistum ermöglicht und unterstützt. Die Armen wirksam zu verehren, kann als erster Zweck des Domkapitels unserer Lieben Frau zu Chur verstanden werden. Dabei sollten wir uns die Haltung unseres Herrn zu eigen machen: Wagemutig diakonisch wirken, ohne es an die grosse Glocke zu hängen. Wie Jesus den geheilten Aussätzigen aufforderte: «Nimm dich in Acht! Erzähl niemand etwas davon».
Eine geschwisterliche Kirche
Das Domkapitel ist mehr als eine kanonische juristische Person, mehr als ein Gremium, mehr als ein Kollegium. In früheren Jahrhunderten wurden die Kathedralkapitulare bekanntlich «Fratris Episcopi» Brüder des Bischofs genannt. Diese kanonische, ekklesiologische Verbundenheit, machte sie auch unter sich Geschwister. Die gelebte Geschwisterlichkeit aller Domherren unter sich sollte wiederum eine grosse Motivation und ein ausstrahlendes Vorbild für die ganze Diözese sein. Sind wir uns alle bewusst, dass die Geschwisterlichkeit, die Versöhnung und die Eintracht im Bistum bei uns beginnen sollten? Die Gläubigen überall werden sofort feststellen, dass jeder von uns über die anderen Mitbrüder nur Gutes sagt, keine destruktive Kritik übt oder zulässt und die Mängel der anderen Domherren nachsichtlich entschuldigt. Auch hier sind wir dazu berufen, Pioniere des Heils zu sein. Mit den Worten, mit der Gesinnung Jesu: «Ich will es – werde rein!» Eine solche geschwisterliche Einstellung ist wirksamer als viele Predigten. Wir können davon ausgehen, dass die Gläubigen darüber sprechen werden, dass die gelebte Brüderlichkeit des Kapitels bekannt wird und Nachahmung findet: «Der Mann aber ging weg und erzählte bei jeder Gelegenheit, was geschehen war; er verbreitete die ganze Geschichte».
Liebe Mitbrüder: Möge Gott uns die Gnade schenken, dass unser Domkapitel vermehrt ein anbetendes, armes und geschwisterliches Kapitel wird, zur Ehre Gottes und zum Heil der Menschen in unserem Bistum. Das ist das Wesentliche. Amen.
Chur, 13. Januar 2022