Liebe Mitbrüder
Liebe Schwestern und Brüder
Heute, an Weihnachten feiern wir, dass Gott in die Welt gekommen ist, dass der Sohn Gottes seit nun rund 2023 Jahren unter uns ist. Und vorher, wo war er da?
Der Sohn Gottes war und ist immer in der Welt, schon vor 2023 Jahren, ja schon seit dem ersten Tag der Geschichte des Universums, in der Welt unter uns. Er war, ist und bleibt die Grundlage für die Existenz des gesamten Universums, der Erde und des Himmels. Diese Tatsache kommt heute in der Lesung aus dem Hebräerbrief und im Evangelium vor. Der Verfasser des Hebräerbriefes erklärt uns sehr gut, dass Gott durch den Sohn die Welt erschaffen hat, dass er durch sein machtvolles Wort das All trägt. Der hl. Johannes führt im Prolog seines Evangeliums aus, dass durch ihn, den ewigen Sohn, der das ewige Wort des Vaters ist, alles geworden ist und dass ohne ihn nichts wurde, was geworden ist. In ihm ist das Leben. Er ist das Licht des Universums. Er ist immer in der Welt, die Welt existiert nur durch ihn und auf ihm begründet. Das Universum ist sein Eigentum.
Nun fragen wir uns nochmals: was ist das Neue, das wir heute feiern? Was hat sich vor 2000 Jahren geändert? Als Gott feststellen musste, dass trotz der durch die Propheten immer wieder stattgefundene Offenbarung, trotz seines Wirkens überall als Ursache, Quelle und Grundlage des Universums, der Mensch seine Gegenwart und sein Wirken nicht verstehen konnte oder wahrnehmen wollte, entschloss er sich, in einer absolut neuen, unvorstellbaren, ja verrückten Art auf Erden zu sein und zu wirken. Der Sohn Gottes ist seit 2023 Jahren als 100prozentiger Mensch unter uns. Damals hat er begonnen als Gott Mensch bei uns zu wirken, durch das einfache Wirken eines begrenzten Menschen. Gott hatte bis zu seiner Geburt auf Erden die Welt getragen, in der Welt gewirkt, die Weltgeschichte mit seiner Vorsehung gelenkt, ohne zu riskieren, ohne sich der Gefahr aus zu setzten, von dieser Erde angefärbt zu werden. Er wirkte als Gott, ohne das Risiko, sich mit Welt und Erde zu beschmutzen. Damit wollte er vor 2023 Jahren Schluss machen. Aus wahnsinniger Liebe wollte er das Schicksal von uns Menschen restlos teilen.
Im Herrn Geliebte, gegenüber aller Ohnmacht hörte Gott auf, seine Allmacht wirken zu lassen. Er beschloss – zusammen mit den Menschen – ohnmächtig zu sein. Gegenüber allen Kriegen, Grausamkeiten und Unfrieden auf Erden, wollte er nicht als Fürst des Friedens, als Befehlshaber der Versöhnung tätig sein, sondern selber mit uns Menschen Ungerechtigkeit, Elend und Unfrieden erleben.
Vor vier Tagen haben wir – total konsterniert – vom Amoklauf eines Studenten in Prag erfahren, der mehr als einem Dutzend Menschen das Leben gekostet hat – und das gerade ein paar Tage vor Weihnachten. Und wir stehen immer noch unter dauerndem Schock aufgrund des Massakers der Hamas in Israel, das nun einen schrecklichen Krieg zwischen Israel und Palästina ausgelöst hat. Die Lage der Bevölkerung im Gazastreifen ist ein Horror. Und so könnten wir vom Aggressionskrieg in der Ukraine, in Syrien, im Kongo und Jemen, Sudan usw. sprechen. Und wir fragen uns: wie können wir noch Weihnachten feiern? Wir wissen nicht, wie wir für den Frieden etwas beitragen können, für die Geschwisterlichkeit, für Eintracht in der Welt, für eine friedliche Welt. Aber wir können als Christen verkünden, dass durch seine Menschwerdung Gott genau in solchen Situationen unter den dortigen Umständen, im Gaza, in Israel, in Syrien, in der Ukraine, im Sudan ist und jetzt zusammen mit den Menschen dort Hunger, Durst, Kälte, Bombardierungen und abgrundtiefe Grausamkeiten miterlebt.
In der Krippe von Betlehem begegnen sich unsere Ohnmacht und die Ohnmacht Gottes. Dort begegnen sich unser Heimweh und das Heimweh Gottes. In Betlehem will Gott mit seinem Leiden unserem Leiden begegnen.
Vor einiger Zeit habe ich eine alte jüdische Legende gelesen, die mich tief beeindruckt hat. Ein Rabbi schickte seine Schüler zu den Verwundeten und Aussätzigen vor die Tore Jerusalems. Er sagte ihnen: «Geht dorthin und sucht dort den verborgenen Messias, der darauf wartet, erkannt zu werden.» Liebe Schwestern und Brüder, das ist die eigentliche Frage an Weihnachten. Erkennen wir den Sohn Gottes in der Welt, hier unter uns? Glauben wir noch, dass er uns nicht im Stich gelassen hat? Der Rabbi gab den Schülern ein Erkennungskriterium, er fügte hinzu: «Geht ausserhalb des Tores und das ist das Zeichen, an dem ihr ihn, den Messias, erkennen werdet: alle anderen umwickeln ihre eigenen Wunden, nur ein einziger umwickelt zuerst die Wunden der andern – das ist er, das ist der Messias.»
Die grosse Aussage des Johannes heisst: «Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt». Das absolut Neue, das vor 2023 geschah ist nicht, dass das Wort unter uns wohnt – das ist immer schon so gewesen, wie wir vorhergesehen haben. Das absolut Neue ist, dass das allmächtige Wort Gottes Fleisch geworden ist, Misere, Hinfälligkeit, eine einzige Wunde. Gott will nicht unsere Wunden als Gesunder heilen, sondern er heilt sie als selber Verwundeter, der zuerst und für immer nur an unsere Wunden denkt. Das tiefste Problem der Welt ist nicht, dass es viele Probleme, Katastrophen, Hunger und Leid gibt, sondern dass wir diese lösen möchten, ohne selbst davon betroffen zu sein.
Im Herrn Geliebte, feiern wir Weihnachten! Wie? Fühlen wir uns zutiefst solidarisch mit all diesen Wunden der Welt. In geheimnisvoller Weise werden die Menschen, die darunter leiden unsere Nähe und Wärme erfahren können. An Weihnachten ist die Menschheitsfamilie für immer und endgültig entstanden. Zeigen wir als Christinnen und Christen, dass diese Familie der Kinder Gottes auch heute und in der Zukunft die Antwort Gottes ist, auf alle Fragen, die uns plagen. Amen
Bischof Joseph Maria Bonnemain
Kathedrale Chur, 25. Dezember 2023