Tag des geweihten Lebens
Liebe Mitbrüder
Liebe Schwestern und Brüder des gottgeweihten Lebens
Jesus wurde von Maria und Josef in den Tempel gebracht, um ihn Gott darzustellen, ja um das Kind Gott zu weihen. War das nötig – könnten wir uns fragen – Gottes Sohn, Gott zu weihen? Er stellt von Ewigkeit her die Fülle des gottgeweihten Lebens dar. Ich wage zu sagen: Jesus wurde in den Tempel gebracht, um Gott den Menschen darzustellen, ja um Gott den Menschen zu weihen. Gott, Christus, unser Heiland, stellt das bedingungslose Geschenk Gottes an uns Menschen dar, die Selbsthingabe Gottes an die Menschen, für die Menschen, zu den Menschen. Das ist die grosse Freude des heutigen Tages.
Das gottgeweihte Leben bleibt Zeichen, Sakrament, Gegenwart der Hingabe Gottes an die Menschen. Eure Berufung, liebe Schwestern und Brüder, ist immer aktuell. Ihr übt eine unersetzliche Funktion aus, besitzt eine unermessliche Bedeutung – in diesen Zeiten ganz besonders.
Der Mensch lebt oftmals in der Unsicherheit; Unsicherheit über sich selbst, über den Sinn seines Lebens und seiner Zukunft, in Unsicherheit über Gott. Die Menschen fragen sich: Kümmert sich Gott noch um unsere Welt? Die Menschen leben oft auch in Unsicherheit gegenüber den anderen. Wir leben in einem Zeitalter, in dem vor allem Leistungen zählen. Zwischenmenschliche Beziehungen bauen vor allem auf erbrachten Leistungen und Nutzen auf. Wir sind wichtig für die anderen, wenn wir für sie etwas leisten. Die andern haben für uns eine Bedeutung, wenn sie für uns von Nutzen sind. Aber wir sehnen uns alle im Tiefsten nach Beziehungen, die Beständigkeit haben, schlicht und einfach wegen dem, was wir sind, aufgrund der unverlierbaren Würde der anderen. Das menschliche Herz sehnt sich nach Beziehungen, die Geborgenheit vermitteln. Beziehungen, die bedingungslos und selbstlos sind. Viele Menschen verunsichert ihre Zukunft. Der Klimawandel, die kriegerischen Auseinandersetzungen, die schwierigen Jahre der Pandemie und vieles mehr machen Angst.
Im Herrn Geliebte, gerade unsere Welt – in dieser Situation – braucht eine Stimme – unsere Stimme – die ausruft: Macht euch keine Sorgen, bleibt zuversichtlich! Gott ist zu uns gekommen. Gott kommt auch heute zu uns und bleibt bei uns. Er lässt uns nicht im Stich. Er ist bereit, für uns da zu sein. Er bleibt nicht wegen unseren Leistungen bei uns, sondern wegen uns selbst. Er ist der Immanuel – der Gott mit uns. Und das Leben, das Gott geweiht ist, ist in besonderer Weise Zeuge dieses Immanuels.
Simeon wurde vom Geist Gottes in den Tempel geführt, um dort Zeuge des Kommens des göttlichen Sohnes zu sein. Seine Berufung war, der Welt prophetisch zu sagen: «Denn meine Augen haben das Heil gesehen». Diese Zeugenhaftigkeit ist auch heute unsere Berufung. Sie gibt der Welt die ersehnte Zuversicht.
Wir haben vorher aus dem Buch des Propheten Maleachi gehört, dass der Herr, den wir suchen – wir könnten sagen: die Zuversicht, die wir brauchen – zum Tempel kommt. Und der Herr spricht: «Seht, er kommt!» Darin sollte unsere Verkündigung bestehen. Verkünden wir überall glaubwürdig: «Seht, er kommt!»
Wenn die Menschen die bedrohte Schöpfung sorgenvoll betrachten, sollten wir da sein und ihnen sagen: Diese Welt ist trotz aller Bedrohungen gerettet und erlöst: «Seht, er kommt!» Er hat seine Welt nicht vergessen.
Wenn die Politikerinnen und Politiker, die Mächtigen dieser Welt darum ringen, Lösungen für Konflikte zu finden, Krisenkonferenzen einberufen und Kompromisse suchen, sollte unsere Stimme nicht fehlen. Glaubwürdig sollte sie das Wirken des Fürsten des Friedens verkünden: «Seht, er kommt!» Auch heute sagt er uns: «Fürchtet euch nicht, Friede sei mit euch!» (Tob 12,17)
Viele junge Menschen vermissen echte, tiefe, tragende und verlässliche Beziehungen. Selbst in den Familien fehlen sie manchmal. Die Jungen fühlen sich auf allen Ebenen stark konkurrenziert, vergleichen sich mit anderen, die sich auf Social-Media-Plattformen schön, jung, sportlich, erfolgreich und immer glücklich präsentieren. Einige fühlen sich in der Schule, der Lehre gemobbt oder von ihrem eigenen Freundeskreis nicht wirklich akzeptiert. Wie sehr brauchen junge Menschen unseren Zuspruch: «Seht, er kommt!» Jesus ist euer Freund.
Wie können wir so sprechen? Das Kommen des Herrn im Heute glaubhaft verkünden, wenn wir die schwierige Lage der Welt sehen? Wir dürfen uns nicht in Naivität verlieren. Wir sehen – wie alle anderen auch – die Umweltbelastungen, die Krisen, die Konflikte. Dennoch, sagen zu können: «Seht, er kommt!», erfordert eine tiefe Beschaulichkeit, ein Urvertrauen. Nur indem wir tagtäglich darum ringen, den Herrn in unsere Arme zu nehmen, um schliesslich zu sagen: «Meine Augen haben das Heil gesehen», werden wir diese Zuversicht überzeugend vermitteln können.
Simeon wagte, den Segen schlechthin – Christus – zu segnen. Er segnete Maria, Josef und das Kind. War das nicht eine Anmassung? Falls er der Auffassung war, er könne aus eigener Kraft segnen, war das beinahe Gotteslästerung. Seiner Armseligkeit bewusst und gestützt auf das, was er gesehen hatte, war er bereit, konnte er, wollte er segnen.
Liebe Schwestern und Brüder des gottgeweihten Lebens, wenn ihr geerdet in unserer Welt, gleichzeitig zutiefst verbunden mit Immanuel seid, werdet ihr ein Segen für die Welt sein und somit unsere Welt stets segnen können. Amen.
Bischof Joseph Maria Bonnemain
Kathedrale Chur, 2. Februar 2023