Liebe Mitbrüder
Liebe Schwestern und Brüder
Die Botschaft des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter ist einfach und eindeutig (vgl. Lk 10, 25-37). Ämter und Titel spielen keine Rolle, barmherziges Handeln ist das, was Gott von uns erwartet. Nur ein barmherziges Verhalten bezeugt die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Nächsten.
Wenn ich euch allen anlässlich dieser gemeinsamen Wallfahrt ganz herzlich danke, tue ich es, weil ihr während vieler Jahre und weiterhin bereit seid, als barmherzige Samariter zu wirken. Euer Wirken als Priester und eure Treue konkretisiert sich und wird echt durch die Bereitschaft, barmherzig mit allen zu sein und ein offenes Herz für alle und für alles zu haben. Wir sind heute hier und pilgern zu Bruder Klaus, um für alle Gläubigen, Laien und Geweihten, die Gnade zu erbitten, ein barmherziges Herz zu haben. Nur so verwirklicht sich das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen und das Amtspriestertum der Geweihten. Möge Gott uns Priester erleuchten, damit wir gute Samariter bleiben, die Priester sind; Priester bleiben, deren Priestersein sich durch eine barmherzige Haltung den Menschen gegenüber zeigt, besonders jenen, die bedürftig, allein, marginalisiert, arm, krank, ausgestossen, diskriminiert sind.
Wir sind heute nach Sachseln gekommen mit einer schweren Last im Herzen. Wir tragen alle mit uns den grossen Schmerz über die sexuellen Missbräuche, die in den letzten 70 Jahren im kirchlichen Umfeld in der Schweiz verübt und nun öffentlich bekannt wurden. Es ist entsetzlich, furchtbar, wir können nichts verharmlosen. Dennoch: die Pilotstudie hat sich nur auf einen Bereich des Wirkens der Kirche fokussiert. Es ist richtig so: das war der Auftrag, welche die Forschenden erhalten hatten. Dennoch ist es ein unvollständiges Bild der Kirche. Seit Jahrhunderten hat sich die Kirche als eine hervorragende, barmherzige Samariterin gezeigt. Tausende und abertausende Geweihte und Nichtgeweihte haben im Verlauf der Geschichte der Kirche – auch in der Schweiz – sich um Arme gekümmert, Kranke gepflegt, Betagte begleitet, vielen Bildung und Erziehung ermöglicht, viele Herzenswunden der Menschen gelindert und gepflegt.
Nun die Frage: Was müssen wir tun? Wie können wir den Kulturwandel voranbringen, welcher die Kirche braucht? Oft habe ich in den letzten Wochen gesagt, dass wir endlich schweigen müssen und nicht Dinge versprechen, die wir schliesslich nicht einhalten oder Theorie bleiben. Wir müssen vielmehr die Last der Schuld auf uns nehmen und endlich konsequent handeln. Das beste konsequente Handeln heisst: barmherzige Samariter sein. Nicht vorbeigehen oder wegschauen, sondern bei der Not eines jeden Menschen stehen bleiben und handeln.
Aus dem Buch Jona haben wir sein Schuldbekenntnis gehört: «Denn ich weiss, dass dieser gewaltige Sturm durch meine Schuld über euch gekommen ist» (Jona 1,12). Wir alle hätten bestimmt noch mehr tun können, konsequenter handeln, damit in der Kirche weniger solche Verbrechen – wenn möglich kein einziges – stattgefunden hätte. Wir dürfen nicht meinen, dass die Situation nichts mit uns zu tun hätte.
Die Kirche und wir mit ihr sind in das stürmende Meer der gegenwärtigen Empörung hineingeworfen worden. Wir könnten meinen, dass wir beinahe zugrunde gehen. Diese Situation kann aber eine providentielle Zeit der Läuterung werden, der Umkehr für die Kirche und für uns alle. Wir erleben sozusagen die «drei Tage im Bauch des grossen Fisches» (vgl. Jona 2,1). Diese Tage mögen uns unendlich lange vorkommen – mitten im Dunkel. Doch Gott wird dann seine Kirche ans Land speien, sie geläutert, gereinigt, demütig, schlicht, transparent nochmals in die Welt senden, um alle Wunden und Leiden der Menschen zu lindern. Gott hat bestimmt mit seiner Kirche nicht die Nerven verloren.
Gerade gestern haben wir das Evangelium von den bösen Winzern im Weinberg gehört. Wie hätten wir reagiert, wenn wir den Gutsbesitzer des Weinberges gewesen wären? Seine Knechte werden geprügelt, misshandelt, umgebracht; dies mehrmals. Schliesslich kommen die Winzer sogar so weit, dass sie den Sohn des Gutsbesitzers töten. Seien wir ehrlich: hätten wir nach all dem noch Lust gehabt, etwas mit dem Weinberg zu tun zu haben? Hätten wir uns nicht vielmehr für immer von ihm verabschiedet und getrennt? Hätten wir nicht einmal mehr von Weitem Trauben sehen oder schmecken können? Ich wundere mich jedes Mal, wenn ich dieses Evangelium lese, wo es heisst: der Gutsbesitzer wird „den Weinberg an andere Winzer verpachten, die ihm die Früchte abliefern, wenn es Zeit dafür ist“ (Mat 21,41). Ist das nicht kaum zu glauben? Gott hofft auf den Menschen gegen alle Hoffnungen. Das, was wir von Abraham sagen (er hoffte wider alle Hoffnung), gilt unendlich mehr von Gott. Gott lässt sich nicht enttäuschen von uns Menschen, trotz der härtesten Enttäuschungen. Er setzt seine Heilsabsicht und sein Heilswirken fort, unbeirrt bzw. unabhängig davon, wie wir Menschen oftmals reagieren.
Und am vergangenen Mittwoch haben wir den Gedenktag des hl. Franz von Assisi gefeiert. Zu Lebzeiten des «Poverello von Assisi» lag die Kirche – bildlich gesprochen – in Trümmern. Viele in der Kirche suchten und wollten die Nähe Gottes nicht mehr, sondern waren weltlich und materialistisch orientiert. Gott gab schon damals nicht auf. Er sagte dem hl. Franz: „Richte meine Kirche wieder auf!“ Und dieser – ein einziger Mensch – hat vor allem mit seiner überzeugenden Lebenshaltung – andere gewinnen können, die mit ihm das echte Bild Jesu auf den Strassen unserer Welt zum Aufleuchten brachten. So entstand eine grosse Erneuerung der Kirche und die Ausstrahlung des hl. Franz und seiner Gefährten hat bis heute nicht aufgehört zu wirken. Solche Menschen, wie Franz von Assisi, die sich berufen wissen, die Kirche wieder herzustellen, sind zu jeder Zeit und in jeder Situation nötig.
Vertrauen wir dem heiligen Bruder Klaus dieses Anliegen an. Das heisst: unsere Bereitschaft, persönlich und gemeinsam, dezidiert und konsequent, mit echten Taten der Barmherzigkeit uns für die Erneuerung der Kirche einzusetzen, unseren Beitrag zu leisten.
Bei der Eröffnung der Synode in der vergangenen Woche sagte Papst Franziskus betreffend die Kirche: wir sollten «eine Kirche sein, die mit Barmherzigkeit auf die Menschheit schaut». Diese Hoffnung bringen wir heute in dieser gemeinsamen Eucharistiefeier zum Ausdruck. Möge Maria, Mutter der Barmherzigkeit, uns beistehen. Amen.
Sachseln, 9. Oktober 2023