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Bistum Chur

Homilie von Bischof Bonnemain an der Näfelser Fahrt

Geschätzte Amtsträger aus Politik, Militär, Justiz, Gesellschaft und Kirche
Liebe Christgläubige,
Liebe Glarnerinnen und Glarner
Liebe Schwestern und Brüder

Heute feiern wir hier im Glarnerland in freudiger und andächtiger Gesinnung einen grossen Gedenk- und Dankestag. Immer dort, wo Menschen mit einer solchen Absicht zusammenkommen, ist Gott mitten unter ihnen (vgl. Mt 18,20). Gott begleitet alle Schritte von uns Menschen, schützt und fördert unsere Freiheit und ermutigt uns, Schritte des Friedens zu wagen. Das österliche Versprechen des Erlösers und Heilands der Menschheit verwirklicht sich in jeder Zeit der Geschichte, im Hier und Heute aller Kontinente: «Fürchtet euch nicht!» (Mt 28,10), «…ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt (Mt 28,20).

Vor fünf Tagen haben wir Ostern gefeiert, das wichtigste Fest des Christentums. «Ostern, Pascha, bedeutet ‘Übergang’, denn in Jesus hat sich der entscheidende Übergang der Menschheit vollzogen: vom Tod zum Leben, von der Sünde zur Gnade, von der Angst zum Vertrauen, von der Verlassenheit zur Gemeinschaft», wie Papst Franziskus am vergangenen Sonntag in seiner Botschaft ‘Urbi et Orbi’ verkündete. Es freut mich deshalb ausserordentlich, heute als katholischer Bischof unter Ihnen und mit Ihnen in der vorher erwähnten österlichen Gesinnung zu wallfahren. Wir erinnern uns an eine denkwürdige Schlacht, auf die das Glarner Volk stolz zurück blickt. Seit jenem 9. April 1388 sind viele Jahrhunderte vergangen. Währenddessen haben leider viele weitere Kriege und Schlachten in der Schweiz, Europa und der Welt stattgefunden. Inzwischen wurde die Schweiz zu einem Land des Friedens, ein Land, in dem ein Leben in einer versöhnten Gemeinschaft vieler Weltanschauungen, Kulturen, Sprachen und Religionen möglich ist. Wir marschieren heute geschwisterlich durch die Felder verschiedener christlicher Konfessionen, Religionen, politischer Parteien, sozialer Schichten und Nationalitäten. Wir leben und erfreuen uns über ein Leben in Gnade, Vertrauen und Gemeinschaft. Insbesondere diese Wirklichkeit sollte uns stolz machen und uns anspornen, dieses hohe Gut zu fördern sowie ein glaubwürdiges und nachzuahmendes Beispiel für andere Nationen zu sein.

Es wäre nicht richtig, wenn ich in diesem Zusammenhang nicht den Invasionskrieg in der Ukraine sowie andere Krisenherde ansprechen würde. Diese kriegerischen Konflikte, unter denen so viele Menschen leiden und sterben, dürfen uns niemals gleichgültig sein. Wir dürfen uns nie an den Zustand des Krieges gewöhnen, nirgendwo und zwischen niemandem. Auf die Fragen der Schweizer Neutralität, der Zulassung der Lieferung von Waffen und Munitionen, der Rolle unseres Landes und unserer Kirchen in diesem Kontext möchte ich hier, in meiner Predigt, nicht eingehen – ich möchte keine politische oder ideologische Rede halten. Dennoch gehört es zur christlichen Verantwortung, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen.

Kürzlich war der ehemalige Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Joachim Gauck, in Chur zu Besuch und ich hatte Gelegenheit, mich mit ihm über diese brisanten, aktuellen Fragen auszutauschen. Er hielt einen Vortrag über Toleranz und stellte dabei unter anderem folgende These auf: Toleranz fordert, unter gewissen Umständen, um ihrem Wesen gerecht zu werden, intolerant zu sein. Seine Aussage machte mich nachdenklich. Wir sind uns im anschliessenden Gespräch – getragen von unserem gemeinsamen christlichen Glauben – schliesslich einig geworden: Die Realität – die Realpolitik – kann es erfordern, sich gegen eine Aggression zu wehren, bewaffneten Widerstand zu leisten, sich zu verteidigen. Es kann zu einer Pflicht der Nächstenliebe werden, jene, die sich verteidigen müssen, zu unterstützen. Ist das aber die wirkliche, sinngemässe Umsetzung des Grusses und des Vermächtnisses des Auferstandenen: «Friede seid mit euch!» (Joh 20,19)?. Das christliche Herz spürt in diesem Moment in seinem Innersten die Spannung zwischen dem, was es notwendigerweise zu tun und dem, was es trotz allem zu erreichen gilt: Die Spirale von Gewalt gegen Gewalt, von Hass gegen Hass, von Intoleranz gegen Intoleranz muss gebrochen werden. Nur der, der am Kreuz bis zuletzt Worte und Taten der Liebe hatte und tat, kann die Welt schlussendlich verändern und retten. Nur die Liebe und die allumfassende Geschwisterlichkeit können die Welt humaner gestalten und verwandeln. Das ist keine Utopie, es ist die tiefe Wahrheit des Evangeliums.

Die biblische Botschaft über den Menschen, man könnte sagen, die Anthropologie des Evangeliums heisst: Beziehung. Der Mensch ist Beziehung, das Leben ist Beziehung. Der Mensch existiert dank der Beziehung zu Gott und zu seinen Mitmenschen. Der Mensch kann nur aus der Beziehung zu anderen Menschen und zu Gott leben. Ohne Beziehungen bleibt der Mensch ein Widerspruch in sich selbst. Der Mensch in sich und sein Leben als Ganzes ist Beziehung, Dialog, Kommunikation, Intimität, Geschwisterlichkeit, Gemeinschaft, Partizipation, Solidarität, Nächstenliebe. Wir dürfen im Nächsten immer eine Bereicherung für uns selbst entdecken. Die Mitmenschen sind nicht – sollten nicht – als Rivalen oder Konkurrenten, Feinde oder Aggressoren, Fremde oder Gefahren betrachtet werden. Nur im Wir und im Du findet und verwirklicht sich das eigene Ich. Erst im Wir können wir glücklich werden, so wie die erste Christengemeinde «ein Herz und eine Seele» (Apg 4,32) war.

Auch die Beziehung zwischen Diesseits und Jenseits gehört zur harmonischen Entfaltung des Menschlichen. Diese erfüllt sich in vollkommener Weise im auferstandenen Jesus Christus. Die «Qualität», die Art der Auferstehung ist leibhaftig und gleichzeitig total anders. Was ist anders? Die Bindung an Grenzen ist entfallen; die Bindung an die Grenzen von Raum, Zeit und Vergänglichkeit. Der Auferstandene lebt wirklich. Er geht durch Steine hindurch. Er bewegt sich in allen Galaxien des Universums, durchschreitet alle Zeiten und Räume, er kann augenblicklich überall anwesend und zugleich stets im Himmel sein, in der Einheit des Dreifaltigen Gottes. Man könnte sagen, dass Christus durch die unendliche Liebe, der Selbsthingabe am Kreuz, verwandelt und in einer neuen Gestalt des Seins wirklich auferstanden ist. Er kann zugleich beim Vater und bei uns Menschen sein, wie Papst Benedikt XVI. bereits in einer Predigt einmal sagte (vgl. Gründonnerstag, 20.03.2008).

Dass wir heute den Gefallenen von damals auf diesen Feldern gedenken und für sie beten, ist ein Zeichen dafür, dass wir an diese Durchlässigkeit zwischen Himmel und Erde glauben. Wir haben es mit einem offenen Himmel zu tun. Wir brauchen aber nicht zu weit in die entfernte Vergangenheit zurückzublicken. Generell, die Verbindung und der Austausch zwischen den Generationen sind für eine humane Entfaltung der Gesellschaft und für deren positiven Entwicklung unentbehrlich. Zu behaupten, dass wir von unseren Vorfahren nichts zu lernen oder dass die jungen Generationen keine Ahnung hätten, offenbart eine unreflektierte Haltung. Der Austausch mit den älteren Menschen und ihre hohe Wertschätzung vermitteln uns den Sinn von Zugehörigkeit, welcher für unser Leben unabdingbar ist.

Liebe Mitfeiernde: Erlauben Sie mir, dass ich hier noch den Trojaner Aeneas in der Mythologie von Virgil zu Sprache bringe (vgl. «La scelta di Enea, Luigi Maria Epicoco). Troja steht in Flammen. Die Griechen haben die Stadt durch das Einschleusen des berühmten hölzernen Pferdes erobert. Jupiter beauftragt Aeneas, aus Troja zu fliehen, um den Trojanern in Italien eine neue Heimat zu schaffen und damit das römische Volk zu gründen. Mitten in der Nacht will Aeneas seinen Sohn, seine Frau und seinen Vater mitnehmen und fliehen. Sein Vater aber weigert sich, mitzugehen. Er sei zu alt, er wäre nur eine schwere Last für die Fliehenden, argumentiert der Greis. Ist es nicht so, liebe Schwestern und Brüder, dass in unserer modernen Gesellschaft, in der die Produktivität und die Rendite Priorität haben, die Betagten manchmal als unproduktive und unrentable Last betrachtet werden? Vielleicht denken einige, dass Traditionen wie die Näfelser Fahrt ausgedient hätten. Nun: Aeneas ist radikal: Entweder der Vater kommt mit oder er selber bleibt auch in Troja. Der Vater lässt sich schliesslich überzeugen. Aeneas nimmt seinen Vater auf die Schultern, damit nimmt er seine Wurzeln mit; nur so kann er die Zukunft aufbauen. Wir sind heute hier, dank vieler Generationen gläubiger Christen, die uns wesentliche Werte, wie denjenigen der Geschwisterlichkeit anvertraut haben. So ist der heutige Tag nicht zuletzt ein Tag der Dankbarkeit gegenüber früheren Generationen. Der Mensch ist Interaktion, Kommunikation zwischen den Generationen, so anerkennt uns Gott als seine Kinder. Für den Auferstanden bilden wir alle eine einzige Familie, wie er vor seinem Leiden betend betont: «Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins sind, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast und sie ebenso geliebt hast, wie du mich geliebt hast. Vater, ich will, dass alle, die du mir gegeben hast, dort bei mir sind, wo ich bin (Joh 17, 21-24). In der Hoffnung, dass die in der Näfelser Schlacht Gefallenen und alle unsere Vorfahren beim Auferstandenen sind, versammeln wir uns heute in diesem Glauben, um zugleich und nicht zuletzt die Geschwisterlichkeit unter uns zu stärken. Amen.

Näfels, 13. April 2023